Nina Möntmann — Mir und mich verwechsel ich

Jahr 2001
Titel lueneburger-heide-sprechen
Künstler Rainer Ganahl
Autorin Nina Möntmann

Die sozialen und politischen Codierungen von Sprache in Projekten von Rainer Ganahl

Welche Anstrengung es bedeuten kann, sich im eigenen, vertrauten Sprachraum aufzuhalten, bemerkt erst, wer aus ihm heraustritt, indem er in ein Land reist, dessen Sprache er nicht mächtig ist. Auf einmal stellt sich eine erholsame Ruhe ein, die durchaus als angenehm empfunden wird. Man ist umgeben von einer Sprachmelodie, deren Inhalt nicht tangiert, das Hirn ist nicht auf Verstehen eingestellt, sondern nur auf die Wahrnehmung einer diffusen Geräuschkulisse. Man befindet sich notgedrungen in einer distanzierten Position, auf ‚eigenem Terrain‘, in einer eigenen Sprach-Kapsel. Sich hingegen im eigenen Sprachraum zu bewegen, bringt durch die aufgefangenen Gesprächsfetzen eine unausweichliche Nähe zu den anderen Teilnehmern mit sich. Auch wenn man nicht direkt angesprochen wird, ist man ständig einer sprachlichen Aufnahme ausgesetzt, deren Inhalt, Wortwahl, Intonation und Sprachfärbung automatisch decodiert wird. Sprache verbindet zwangsläufig, sie stellt einen sozialen Raum her, in dem Maße, dass permanent artikulierte Identitätsfetzen von fremden Personen aufgenommen werden, ob man will oder nicht. Wenn Sprache Identität zum Ausdruck bringt, dann wechselt diese Identität auch mit dem Erlernen einer neuen Sprache und dem Eintritt in einen neuen Sprachraum.

Von dieser Annahme geht Rainer Ganahl in seiner künstlerischen Praxis aus. Er thematisiert die sozialen und politischen Codierungen von Sprache auf unterschiedliche Weise. In seinen langwierigen Sprachlernprojekten (z.B. „Basic Japanese“, 1993, „3 Months, 3 Days A Week, 3 Hours A Day – Basic Modern Greek“, 1995) bringt er sich selbst die jeweilige Sprache mit Hilfe diverser Lernmaterialien bei und dokumentiert die Lektionen auf zahlreichen Videos. Obwohl es oft Jahre dauert, um eine Sprache fließend zu beherrschen und Ganahl in der häufig kurzen Zeit nur bruchstückhafte Grundlagen der Verständigung erreicht, erlangt er auf diese Weise Zugang zu einem anderen Sprachraum, der mit anderen Kontexten, sozialen Umgangsformen und einer anderen Geschichte belegt ist. Damit hat dieser modellhafte ‚Selbstversuch‘ auch identitätsverändernde Auswirkungen, in denen es u.a. darum geht, in einem Lernprozess das Monopol der eigenen ‚Muttersprache‘ in einer Vielsprachigkeit immer weiter aufzuweichen. Letztlich machen die Arbeiten damit eine Aussage über die Determiniertheit durch die eigene ‚Muttersprache‘.

Jeder Sprachraum ist aber nicht nur mit subjektiven Identitäten verknüpft, sondern auch mit kollektiven, als ein politischer Raum, der auf die Geschichte eines Ortes, bzw. eines Landes verweist. In diesem Zusammenhang wird von Menschen, die im Exil leben, ihre Zweisprachigkeit als doppelte Identität besonders intensiv empfunden. So sagt der Ende der 30er Jahre emigrierte Ralph Freedman als er 1946 in den USA auf einer Konferenz wieder mit Deutschen deutsch sprach: „Ich hatte das Gefühl, daß man zwei Persönlichkeiten hat in beiden Sprachen. Und das war wunderbar das Gefühl, beides zu sein.“ Das Interview mit Freedman ist Teil von Ganahls Projekt „Sprache der Emigration“, das er seit 1999 mit Emigranten in New York und in Atlanta betreibt. Die Videos stellen eine Art subjektorientierte Historiographie über die Emigration in die USA dar. Während Freedman, der Ende der 30er Jahre aufgrund nationalsozialistischer Rassengesetze nach New York emigrierte, eine Gruppe von Emigranten repräsentiert, die die Grausamkeiten der Verfolgungen im Dritten Reich selbst nur am Rande miterlebt hat, ist Barbara Heimerls Biographie, mit Gefangenschaft im KZ und der späten Emigration 1951, ein Beispiel für die lebenslange Prägung durch die Kriegserlebnisse. Trotz der unterschiedlichen Erlebnisse leben beide in einer ‚Zwischenwelt des Exils‘ in New York, mit Einrichtungsgegenständen und Bildern, die an ihren ursprünglichen Ort erinnern, und in einer Zweisprachigkeit, in der sie manchmal hin- und herswitchen. Das Sprechen mit Akzent ist für sie Alltag und Teil ihrer Identität. In diesem Sprechen, dieser Nicht-Repräsentativität eines homogenen Sprachraums, drückt sich ihre Positionierung in einer ‚Zwischenwelt‘ aus.

Für die Arbeit „Lüneburger Heide Sprechen“ interviewte Rainer Ganahl 20 Bewohner Neuenkirchens und umliegender Dörfer. Die Auswahl sollte nicht den Anspruch haben, repräsentativ zu sein, vielmehr entstand eine Vielstimmigkeit. Die Befragten entstammen unterschiedlichen Generationen und sprechen entweder Plattdeutsch, oder sie kommen aus einem anderen Sprachraum und haben sich in der Umgebung angesiedelt, oder sie leben seit geraumer Zeit in Neuenkirchen und kennen Land und Leute vor einem historischen Hintergrund und aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Die Gespräche finden entweder im Kunstverein oder bei den Interviewten zu Hause statt. Ganahl stellt keine spezifischen Fragen, sondern lässt die Leute reden, wobei er lediglich die Gespräche zu zwei Themenkomplexen führt: Plattdeutsch und die Geschichte des Ortes, vor allem in Hinblick auf die Nähe zum KZ Bergen-Belsen.

Die Gesprächssituation zwischen Ganahl und den Interviewten ist weder als Dialog noch als Interaktion zu bezeichnen, sondern sie stellt eine soziale Praxis dar, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Ganahl nicht unterbricht, sondern Raum zum Reden lässt. So weiß man als Zuschauer vielleicht nach dem dritten Interview, dass Plattdeutsch nach dem zweiten Weltkrieg durch den Zuzug von Flüchtlingen weniger gesprochen wurde, und dass die Kinder in der Schule Hochdeutsch sprechen sollten, um ihre beruflichen Chancen (angesehenerer Job, bessere Bezahlung) zu verbessern. Sprache wird demzufolge als kulturelles Kapital verhandelt: Hochdeutsch sollte eine bessere Ausbildung garantieren. Denn auch „Pädagogen waren der Meinung (…), wer seinen Kindern eine anständige Ausbildung und Bildung angedeihen lassen wollte, der hat dann also tunlichst mit den Kindern kein Plattdeutsch gesprochen“ (Monika Zimmermann), denn Platt haftete der Ruf der „Sprache der Bauern“ an. Es hieß auch, dass Plattdeutsch sprechende Kinder schlechter Englisch lernen würden, weil schon in der eigenen Grammatik gravierende Fehler liegen. Das Sprichwort „mir und mich verwechsel ich“ gibt ein prägnantes Beispiel dafür, denn der Platt sprechende „Heidscher“ sagt in beiden Fällen „mi“. Die interviewte Ethnologin Dagmar Falarzik, deren Eltern den Kunstverein Neuenkirchen gründeten, hat die Erklärung für die generationsbedingte Unkenntnis des Plattdeutschen parat: „Das ist das Muster der Verdrängung der nativen Sprache durch Minderwertigkeitsgefühle der Sprecher. Hier wurde von den Behörden…, also von den Hochdeutschsprechern versucht, das Hochdeutsche durchzusetzen als Umgangssprache. Und das geht eine zeitlang parallel und kippt, meiner Meinung nach, erst in dem Moment, wo die Elterngeneration ihre Sprache als minderwertig anerkennt und ihren Kindern kein Platt mehr beibringt.“ Seit Anfang der 90er Jahre hat sich die Situation jedoch geändert. Im Raum Neuenkirchen erfährt Platt seitdem wieder eine Aufwertung, was man mit dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung in eine Verbindung bringen kann, worauf eine allgemeine Besinnung auf regionale und lokale Eigenheiten, wie z.B. Dialekte folgte. So werden heute an den Schulen Plattdeutsch-AGs angeboten, die auch von der 8-jährigen Sarah Freytag besucht werden, einfach „weil es Spaß macht“.

Im sprachlichen Selbstverständnis der Interviewten werden dann unterschiedliche Auffassungen, je nach persönlichem Empfinden, deutlich: für Pastor Dieter Wingert ist Platt „wie eine Fremdsprache“. Er hat, obwohl in Soltau geboren, auch im Elternhaus nie Platt gesprochen. Andere wiederum unterscheiden zwischen familiärem Sprachgebrauch und demjenigen in der Schule und Ausbildung (Angela Freytag), oder sie sprechen in speziellen Situationen Hochdeutsch, die – mehr oder weniger nachvollziehbar – als ‚offizielle‘ Situationen erachtet werden („Im Auto mussten wir Hochdeutsch sprechen, da passte Platt nicht.“ Martin Meyer)

Der Hintergrund der vergleichsweise unsystematisch gestreuten Einladungen der Interviewpartner ist, gerade nicht das ‚abgehobene‘ Expertenwissen zusammenzutragen, sondern das vielstimmige Sprechen über eine Region zu sammeln. Das Leben mit der Geschichte und dem Dialekt wird aus einer durch den Alltag geprägten Perspektive der Bewohner beschrieben. Es wird niemand herangezogen, der für sie spricht, sondern sie selbst kommen ‚ungefiltert‘ zu Wort. Diese Form der Geschichtsschreibung, die Ganahl in den Projekten „Lüneburger Heide Sprechen“ und in „Sprache der Emigration“ betreibt, entspricht der oft in der neueren Ethnographie angewandten Praxis der „Oral History“.

Was bedeutet ein Leben in einem Sprachraum, der sich durch einen Dialekt auszeichnet? Durch das Sprechen eines Dialekts wird ein lokaler bzw. regionaler Sprachraum definiert, der eine Zugehörigkeit zu einer relativ eng gefassten sozialen Gruppe behauptet, die sich über die Eigenheit einer Sprache beinhaltet. Im Effekt kann dies eine Zusammengehörigkeit erzeugen, was von einigen als angenehm empfunden werden kann („Platt spricht das Gemüt mehr an als Hochdeutsch.“ Martin Meyer). Durch die naheliegenden Grenzen zu einem ‚Nichtverstehen‘, der Erschwernis in der Kommunikation und des sozialen Austauschs, entsteht aber auch eine Einschränkung des aufgrund einer gemeinsamen Sprache definierten sozialen Raums. An diesen Grenzen, in sprachlichen ‚Konfliktsituationen‘, einigt man sich dann auf die nächst grössere Kategorie, das Hochdeutsch.

Ganahl selbst spricht kein Plattdeutsch, sein Sprechen ist von einem ausgeprägten Akzent der österreichischen Region Vorarlberg gekennzeichnet. Seine Zwischenfragen oder Anmerkungen bringt er oft stammelnd und nach Worten suchend hervor, mit langen Pausen. Das signalisiert zum einen, dass er nicht mit Vorinformationen über die Leute und spezifischen Fragen ein zielgerichtetes Interview führt, und zum anderen weist er sich selbst durch seine Sprache als Außenstehender des Sprachraums „Plattdeutsch“ aus. Ganahls stammelnde Sprache markiert einen eigenen strategische Distanzierungsprozess vom eigenen Sprachraum, der auch eine Distanzierung zur eigenen und kollektiven Geschichte beinhaltet. Dieser Akt der Abgrenzung, ein in der Ethnographie als „othering“ bezeichneter Prozess, ist zunächst zu selbstreflexiven Zwecken notwendig, als „Akt der Inskription, in dem die Anderen distanziert und objektiviert werden.“ Ganahl überschreitet jedoch diese klassische übergeordnete Position des ethnographischen Beobachters und übernimmt die Rolle des „Participant Observer“, des teilnehmenden Beobachters, in dem er sich selbst im Feld mit den Anderen sieht. So schlägt er beispielsweise Parallelen zur eigenen Geschichte vor, wie im Gespräch mit Karl-Heinz Krieg, der die Hälfte des Jahres in Afrika lebt und über die übrige Zeit in Neuenkirchen sagt: „Ich lebe auch hier in meiner afrikanischen Welt.“ Ganahl kommentiert hier mit einer Parallele zur eigenen Situation, die er mit einem Motiv unterfüttert: „Ich bin mir selbst seit einiger Zeit klar darüber, daß mein Aufenthalt außerhalb Europas (Ganahl lebte in Paris und seit 1990 in New York, Anm. d. A.) auch mit einer Außeinandersetzung des Krieges zu tun hat.“ Auch wenn Krieg für seine Person nur zögerlich zustimmt, öffnet Ganahl mit seiner Aussage den Kontext für die Koppelung und Identifikation der gesprochenen Sprache an die kollektive Biographie dieses Sprachraums.

Ganahl bereitet den interviewten Neuenkirchenern eine spezielle Bühne, indem er ihre Gespräche im Kunstkontext, in einer Ausstellung, zeigt. Zunächst nutzt er seine Position im Kunstbetrieb, um ihnen als Partizipienten eines Kunstprojekts Eingang in eine Institution zu verschaffen, und dort die Aufmerksamkeit einer spezifischen Öffentlichkeit zu bekommen. Dabei muss man im Auge behalten, dass diese Partizipation den Leuten weder permanent bewusst, noch von ihnen beabsichtigt ist und ihnen vielleicht auch gar nicht erstrebenswert erscheint. Ganahl räumt ihnen eine Redezeit über ihre eigene Biographie und persönliche Ansichten im Kunstbetrieb ein, im Rahmen einer Ausstellung. Er gibt nur grob ein Thema an und lässt sie dann reden, ohne sie zu unterbrechen, oder auf bestimmte Informationen hinaus zu wollen. Der Effekt ist mit einer psychoanalytischen Versuchsanordnung vergleichbar: scheinbar entsteht eine Art Vertrauen in die Situation, der Redefluss der Sprechenden wird nahezu komplett von Ihnen selbst gestaltet. Nicht selten ist er von Dingen bestimmt, die sie sonst in dieser Form nicht einer fremden Person mitteilen würden (bezeichnenderweise bereute ein Interviewter seine Offenherzigkeit im Nachhinein und zog sein Video zurück). Andere nehmen die Offenheit der Situation auch wahr, aber sie ist ihnen im Gespräch mit einem Fremden unangenehm (der ehemalige Schulleiter Horst Mikasch, als er über seine Kindheitserlebnissen im Krieg spricht: „Ich würde gerne das abbrechen. Das ist eigentlich meine ganz persönliche Geschichte, und ich kann mir nicht vorstellen, dass das für Ihren Film eine Bedeutung hat, oder für die, die es sehen sollen.“). Und wiederum andere verstanden gar nicht, warum sie eingeladen wurden, weil sie gar nicht Platt sprechen und sich somit nicht kompetent für dieses Thema fühlen.

Die übliche Erwartungshaltung bei einem Interview entspricht demnach den alltäglichen Erfahrungen aus TV-Reportagen oder Talkshows, wo ein Interview dazu dient , Informationen von Experten oder Augenzeugenberichte eines bedeutenden Ereignisses zu bekommen. Biographisch „Belangloses“ interessiert höchstens von Prominenten. Zur Zeit begegnet man häufig Interviewstrategien in der Kunst, die sich im Unterschied zu Ganahl, auf eskalierende politische Situationen beziehen, was z.B. auf der Manifesta 3, 2000, in Ljubljana auffällig war. Bei diesen Arbeiten liegt ein Vergleich zu TV-Reportagen und Dokumentationen nah. Oft beziehen sie sich auf die Sehgewohnheit dieser TV-Genres und verbinden ein politisches Interesse mit einer Medienkritik. Ganahl hingegen negiert diesen Bezug zum Fernsehen, indem er Aspekte wie Fragenkatalog, Informationspolitik, ausgewählte, prädestinierte Gesprächspartner etc. ausklammert. Er legt vielmehr in seiner Vorgehensweise eine Vielzahl von Verweisen zu andern Disziplinen an. Mit der für eine Ausstellung stark zurückgenommenen Visualität (die Videos zeigen nur die Köpfe der Sprechenden mit angeschnittenem Oberkörper mit einer fixen Kameraeinstellung aufgenommen) und der Ergänzung der Ausstellung durch Fotos aus der Umgebung Neuenkirchens, die mit Plattdeutschen Sprichwörtern versehen sind und sich dem Genre „Foto-Text-Arbeiten“ zuordnen lassen, ordnet er seine Arbeit im Umfeld konzeptueller Kunstpraktiken ein. Mit der strategischen Anwendung einer Kombination aus Methoden unterschiedlicher Disziplinen wie Ethnographie, Fotografie und Dokumentarfilm positioniert er sich bewusst als ein ‚Nicht-Experte‘, vergleichbar mit seiner lückenhaft erlernten Vielsprachigkeit. Der monopolisierte Machtstatus, der mit einem Expertentum verbunden wird, wird damit aufgeweicht und in Frage gestellt.

zur Arbeit von Ganahl